Spaziergang zum Trödelmarkt am Rathaus Schöneberg
Elke durften wir bei dem Kurs “Kreatives Schreiben” kennenlernen und jetzt erfreut sie für uns mit einem Gastartikel über ihren Spaziergang zum Rathaus Schöneberg. Danke!
Seit einigen Jahren wohne ich in Friedenau. Dieser Stadtteil, der zum Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg zählt, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Er ist friedlich, ohne spießig zu sein. Er bietet jede Menge kulturelle Abwechslung, ohne touristisch überlaufen zu sein. Auch auf kulinarischer Ebene ist sein Spektrum weit gefächert. Und wie in fast jedem Bezirk findet am Wochenende auch in Schöneberg ein Trödelmarkt statt. An manchen Sonntagen stürze ich mich dort gern in das bunte Treiben. Auch heute spaziere ich den Südwestkorso entlang Richtung Norden und biege vor dem Bundesplatz rechts in die Varziner Straße ein. Hier an der Ecke treffen sich bereits einige Stammgäste in der Kneipe „Zum Friedenauer“, vielleicht zum Frühschoppen, vielleicht auch zum Dartspielen.
Zwei Häuser weiter zieht mich das Schaufenster vom „Süßkramdealer“ in seinen Bann, ein außergewöhnliches Geschäft, das jedes Schokoladenherz höher schlagen lässt.
Schräg gegenüber schaue ich mir noch das aktuelle Programm vom „Cosima“ an; einem kleinen, traditionsreichen Kino, das bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eröffnet wurde und den Krieg unbeschadet überstanden hat.
Vor dem Kino steht ein zauberhafter Kandelaber, dessen warmes Licht den Varziner Platz an einem verschneiten Winterabend in eine märchenhafte Stimmung taucht.
Nach wenigen Metern biege ich links in die Handjerystraße ein und gelange rasch in den beliebten Volkspark. In Richtung Osten kommt auch bald der Turm des Rathauses in Sicht. Vorab erhascht ein Blick nach rechts auf den Hans-Rosenthal-Platz noch das alte Gebäude, in dem heute das Deutschlandradio seinen Sitz hat. Nur die verbliebenen Reklame Buchstaben „RIAS“ am Dach verraten einen Teil der Geschichte dieses Hauses. Kurz vor 12 Uhr stehe ich am Haupteingang des Rathauses von Schöneberg. Der Platz davor wurde nach dem US-Präsidenten John F. Kennedy benannt, der hier am 26. Juni 1963 seine berühmte Rede hielt. Wohl jeder Deutsche kennt den Satz: „Ich bin ein Berliner.“, der allerdings etwas aus dem Zusammenhang gerissen ist und somit glauben lässt, Mr. Kennedy persönlich nannte sich einen Berliner. Dann geht es los. Punkt 12 Uhr erklingt, wie an jedem Tag, der schwere Klang der Freiheitsglocke, die von Amerikanern gespendet und im Oktober 1950 ihr Zuhause im Turm des Rathauses fand. Dieses Glockenläuten erzeugt mir immer aufs Neue eine Gänsehaut. Nachdem die Glocke verstummt ist, bin ich bereit für meinen Rundgang über den Trödelmarkt.
Auch wenn ich meist nur ein Buch kaufe, verweile ich dennoch gern an bestimmten Ständen. Hier werden die Dinge nicht auf die Tische gestellt, sondern in den Kisten verbleibend angeboten. In jeder dieser Kiste finden sich diverse Haushaltsgegenstände, die scheinbar wahllos durcheinander geworfen wurden. Da dabei auch schon einmal ein Glas zu Bruch geht, muss man sich beim Stöbern stets vor den Scherben in Acht nehmen. Ich stelle mir vor, wie die Dinge bei Haushaltsauflösungen in den Kartons landen, nachdem deren Besitzer ihre Wohnungen aufgeben wollten oder mussten. Ihre persönlichsten Dinge wurden nun von fremden Menschen sortiert. Nach unbrauchbaren und weiter verwertbaren. Letztere finde ich hier zum Inhalt einer Kiste geschrumpft auf dem Trödelmarkt. So erhalte ich Einblick in das Leben fremder Menschen, ohne dass ich diese kannte oder sie es mir erlaubt hätten. Welches Besteck haben sie benutzt, aus welchen Gläsern getrunken? Sind die Tassen so abgenutzt, weil ihre Besitzer keinen Wert auf Äußerlichkeiten legten, sich keine neuen leisten konnten oder weil sie diese bereits von ihren Eltern geerbt und als Andenken geschätzt haben?
Aus dem Inhalt der Trödel-Kisten kann ich mir Familiengeschichten zusammenreimen, die meiner momentanen Stimmung gerecht werden. Und so manches Mal stelle ich mir vor, was wohl aus meinem Leben in einer Kiste landen kann und welchen Schluss diese Dinge auf mich zulassen.
Bevor ich meinen Heimweg antrete, besuche ich noch die Ausstellung im Rathaus. „Wir waren Nachbarn“ dokumentiert in aufwendiger und äußerst warmherziger Weise in über 170 Alben die Lebens- und Leidensgeschichten von zwischen 1933 und 1945 verfolgten und ermordeten Nachbarn, so auch von Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko und vielen anderen.
Ergreifend ist für mich besonders die Gestaltung der Wände. Durch Kärtchen, die nach Straßen und Hausnummern sortiert sind, erfahre ich, wer, wann, aus welchem Haus abgeholt und deportiert wurde. Das macht die Ausstellung für mich so lebendig und ein wenig schaurig.
Die Mitarbeiter am Eingang der Ausstellung geben freundlich und geduldig Antworten und Hinweise. Für sehr wenig Geld kann man einen Plan erwerben, auf dem alle Gedenkschilder abgebildet sind, die es bei einem Rundgang durch das angrenzende Bayrische Viertel zu entdecken gibt. Es sind Zeitdokumente aus der NS-Zeit, deren Inhalte nicht leicht verdaulich sind. Nachdenklich verlasse ich das Rathaus. An dem großen Springbrunnen mit dem goldenen Hirschen sitzen Familien. Kinderlachen und lautes Stimmengewirr erhellt meine Stimmung. Der Volkspark hat sich gefüllt mit Menschen, die es wie mich in diese kleine grüne Oase mitten im Zentrum Schönebergs zieht. Mir fällt der Werbeslogan ein, den ich vor Jahren auf einem Plakat gelesen hatte: „Schön, Schöner, Schöneberg“. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.