Ein hundertjähriges Haus - Haus des Volkes (Probstzella)
In diesem Gastbeitrag von Edith erfahren wir von ihrer Begeisterung über das Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ in Probstzella und ihrer Freude auf dem Anreisebesuch in Coburg.
Wie schön ist das denn?
Eine 60-Jährige bekommt zum runden Geburtstag einen Aufenthalt nebst Führung in einem 100-jährigen, ganz besonderen Gebäude geschenkt und lädt dazu auch noch ihre 70-jährige Freundin ein. Das ist so außergewöhnlich, dass es nur perfekt werden kann.
Coburg
Schon die Anreise aus Oberbayern ist angenehm. Jeder Reisende sollte sich eine kleine Pause in Coburg gönnen. Das Städtchen ist absolut fein herausgeputzt: saubere Flaniermeile, renovierte Fassaden, historische und moderne Brunnen.
Die Gastronomen hier freuen sich über vollbesetzte Plätze in Sonnenlage. Samstags ist Markt-Tag. Die Stände locken mit regionaler Frischware und lokalen Gaumenfreuden. Wie lang ist wohl so eine original Coburger Bratwurst? Im Rohzustand soll sie genau 31 Zentimeter messen und gebraten auf einem Kiefernzapfenfeuer immerhin noch ca. 25 cm lang sein. Sie wird im sogenannten „Schleiß“ oder „Bändel“ abgefüllt, dem Dünndarm des Schweines, der nur grob von seiner Fettschicht befreit wird. Dieser hält die Wurst beim Grillen sehr saftig. Zünftig serviert wird sie übrigens im sogenannten „Weckla“.
Der in schwarzen Stein gehauene Albert, Prinz von Sachsen, Coburg und Gotha, Herzog zu Sachen, Prinzgemahl von Großbritannien und Irland, wacht über dem Marktplatz. Es mangelt auch nicht an exquisiten Boutiquen, einladenden Cafés und kleinen Galerien.
Eine Coburger Besonderheit sind fünf sehr spezielle Erker, die aus einer tragenden Säule am Haus-Eck, einer zweistöckigen Konstruktion, und einer Haube bestehen. Sie befinden sich am Rathaus, am Schloss Ehrenburg, Am Markt 6 und am Stadthaus.
Der Schutzpatron der Coburger - der Heilige Mauritius - findet sich nicht nur am Rathaus und im Stadtwappen, sondern auch auf vielen Gully-Deckeln der Stadt.
Wo man hinschaut, erzählen die Gebäude ihre Historie. Auch wenn die Apotheke am Marktplatz heute Hof-Apotheke heißt, wird an der Hauswand ein anderes Narrativ erwähnt. Das charakteristische Gebäude wird bereits seit 1543 als Apotheke genutzt und hieß ursprünglich „Zum güldenen Strauß“. Cyriakus Schnauß (1512–1571) eröffnete hier die erste städtische Apotheke.
Alles sehr spannend! Unser kleiner Rundgang führt uns weiter durch die Spitalgasse und Johannisgasse zum Schlossplatz nebst Schloss, weiter am Puppentheater und dem historischen „Roßtäuscher“ - Verlag vorbei zur Kirche St. Moritz und zurück zum Marktplatz.
Da jedoch Thüringen unser Ziel ist, heißt es vorerst: „Ade Coburg! Wir kommen unbedingt wieder!“ Parken kann man im Übrigen ganz zentral im Parkhaus Zinkenwehr!
Haus des Volkes - Probstzella
Nach Sonneberg führt unser Weg auf der A 85 durch das Schiefergebirge bis nach Probstzella, einer kleinen Gemeinde mit ca. 1500 Einwohnern mitten im Thüringer Wald. Der Ur-Kern der Ortschaft stammt aus dem Jahr 1116, als Kölner Mönche hier die Probstei Zella gründeten, die später den unterschiedlichsten Verwaltungen zugeordnet war. Vielen Bundesbürgern ist Probstzella aber eher als Grenzbahnhof für Interzonenzüge bekannt. Für nicht ortsansässige DDR-Bürger war dieser Bahnhof lange Zeit ein geheimnisvoller Ort, der nur mit einem sogenannten Grenzschein erreichbar war.
Prägend für das Ortsbild ist heute das „Haus des Volkes“. Stolz erhebt es sich in der zweiten Reihe über alle Baulichkeiten der Umgebung.
Hier kommt der Industriepionier Franz Itting ins Spiel. Die Entwicklung des Ortes im letzten Jahrhundert ist unweigerlich mit dem Wirken dieses Mannes verbunden. Er baute hier nicht nur das erste Kohlekraftwerk, sondern elektrifizierte auch ca. 120 Dörfer in den umliegenden Thüringer Tälern. Der Zufall wollte es, dass zwei von Ittings Kindern, die am Bauhaus in Weimar studierten, an einem Wochenende im Jahr 1925 ihren Freund und Studienkollegen Alfred Arndt mit nach Hause brachten. Als Vater Itting ihnen die Pläne für ein neues kulturelles Zentrum im Ort zeigte, sagte der Architekturstudent Arndt: „So schlecht kann ich es allemal auch bauen!“ Schnell wurden die bereits existierenden Pläne des Saalfelder Architekten Klapproth auf Eis gelegt bzw. abgewandelt. Bauhausdirektor Gropius wurde vom Projekt „Haus des Volkes“ überzeugt und beurlaubte seinen Architektur-Studenten für den Bau. So entstand ein Bauhaus-Juwel, welches man von der Rückseite betritt.
Hier befinden sich die Einfahrt und das riesige terrassierte Park-Areal. Heute ist ein Teil davon Parkplatz der Gäste im „Haus des Volkes“.
Zur Gesamtanlage gehören auch ein Kiosk, ein Musikpavillon, die ehemalige Turnhalle, ein Wassertretbecken und ein Zierfisch-Teich mit Fontäne. Sie stehen ebenfalls unter Denkmalschutz.
Wir werden freundlich begrüßt. Auf der Eingangs-Etage im Hochparterre - von unten gezählt die 4. Etage - befindet sich auch der „Blaue Saal“, sprich das Restaurant nebst Küche und Thekenraum. Alles zeigt sich in einer harmonischen Farbigkeit mit typischer Bauhaus-Beleuchtung.
Wir checken ein und beziehen die Zimmer. Letzteres ist sehr ungewöhnlich, weil wir zu den Zimmern die Treppen hinabsteigen müssen. Irgendwie ist unser Kopf doch so trainiert, dass man die Gästezimmer immer in den oberen Stockwerken verortet. Schon das Treppenhaus lässt uns staunen. Alles ist klar strukturiert und die Farbentwürfe stammen alle vom jungen Alfred Arndt.
Nach einer kleinen Pause gehen wir auf Entdeckungstour. Wo hat man schon die Möglichkeit, mit interessiertem Auge so einen wiederhergestellten Bauhaus-Schatz selbstständig zu erforschen? Wir können uns im Haus frei bewegen. Außer zu den Gästezimmern gibt es keine verschlossenen Türen. Im Treppenhaus wurde mitunter die Original-Beschriftung freigelegt. Darunter ist die jetzige Nutzung ausgewiesen.
In der 3. Etage befindet sich der Frühstücksraum. Er ist gleichzeitig auch Ausstellungsraum, in dem die Lebensgeschichte von Bauhaus-Schüler Alfred Arndt erzählt wird. Auch seine Ehefrau Gertrud war Bauhaus-Schülerin. Ein von ihr entworfener Teppich mit gelben und blauen Quadraten zierte einst sogar das Büro von Bauhaus-Direktor Walter Gropius. Eine Nachbildung kann man hier bewundern.
Begibt man sich hinter den Frühstückssaal, wird man durch ein kleines Museum überrascht. Es dokumentiert das Leben und Wirken von Franz Itting. Wo gibt es noch Unternehmer mit einer ähnlich großen sozialen Ader? Nicht umsonst wurde er der „Rote Millionär“ genannt. Er passte nie in die Norm und war ein tragischer Held. Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde er als praktizierender Sozialdemokrat sogar verfolgt und inhaftiert. Als Probstzella von der Roten Armee befreit wurde, haben die Sowjets den Kapitalisten enteignet. Aber Franz Itting gab nie auf. In einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen, gründete er im nahe gelegenen Ludwigstadt erneut ein Unternehmen und starb mit 83 Jahren am Arbeitsplatz.
Am Ausgang werfen wir noch einen Blick in die Frühstücksküche.
Im 4. Stock befindet sich das Herzstück des Hauses - der „Rote Saal“. Er wurde ursprünglich für 1.000 Personen konzipiert und diente als Kino, Konzertsaal und Veranstaltungsort. Über der Bühne steht in Bauhaus-Lettern der Spruch von Franz Itting: „Freudig lebe, aufwärts strebe!“. Früher wurde die Bestuhlung mit eleganten Stahlrohr-Klappstühlen vorgenommen. Ein Original-Exemplar ist noch im Museum zu bestaunen. Eine weitere Etage nach oben gelangt man auf die Galerie des „Roten Saales“ mit Barausschank, Kino-Vorführraum mit den alten Projektoren aus den 1920er Jahren von Carl Zeiss, Toiletten und Requisitenraum.
Wir aber gehen hinaus über ein Treppen-Rondell, der sogenannte „Bastei-Treppe“, bis zum Haupt-Eingang im Parterre. Man findet den unteren Eingang auch etwas zurückgesetzt hinter einer Häuserzeile gegenüber dem Bahnhof. Hier unten im Vestibül wird man sofort durch bauhäusliches Interieur empfangen: rechts die Kasse und geradezu die historische Garderobe.
Neben den Unterkünften gibt es in der ersten Etage eine Sauna und in der zweiten ein Billardzimmer sowie eine Bowlingbahn. So fein!
Noch viel mehr Informationen bekommen wir am nächsten Vormittag bei einer Führung durch den heutigen Eigentümer Dieter Nagel, dem „Hausretter“ höchstpersönlich. Manchmal haben Häuser nach Jahren der Fremdnutzung und des drohenden Verfalls auch einfach Glück. Die Erben Ittings hatten nach dem Zusammenbruch der DDR einen Antrag auf Rückübereignung gestellt.
Ganze zehn Jahre brauchte es, bis das damalige Thüringer Landesamt für Vermögensfragen einen Beschluss fasste und den Itting-Erben einen negativen Bescheid zustellte. Die Enteignung des E-Werkes samt Werkswohnungen und „Haus des Volkes“ könne aufgrund des sowjetischen Besatzungsrechts nicht rückgängig gemacht werden, hieß es.
Wie schön, dass der einheimische Medizintechnik-Unternehmer Dieter Nagel im Jahr 2003 zur Versteigerung des Hauses nach Berlin fuhr und den Zuschlag bekam. In jahrelanger Arbeit und mit viel Liebe zum Detail haben er und seine Frau das Haus rekonstruiert. Wir lauschen seinen Ausführungen auf der Sonnen-Terrasse und im angebauten Café-Pavillon. Für die historisch korrekte Restaurierung des Café-Pavillons erhielt das Ehepaar Nagel im Jahr 2005 den Deutschen Fassadenpreis. Der zweigeschossige, verglaste Anbau mit Flachdach, der auf einem Stahlbetonskelett über den Hang hinausgebaut ist, bietet einen schönen Blick hinunter ins Loquitztal. Ich liebe diese strenge, reduzierte Bauhaus-Geometrie! In den kalten Jahreszeiten werden der Pavillon und seine Anbauten eher für praktische Zwecke verwendet. Makaber liest sich im Anbau eine Inschrift aus DDR-Zeiten: „Sobald der Schütze im Anschlag ist, darf der Stand nicht betreten werden.“
Entsprechend den Arndtschen Planungszeichnungen war parkseitig auch noch eine Tanzplatte vorgesehen gewesen. Die konzipierte trichterförmige Überdachung wurde aber schon damals nicht realisiert. Sehr aufschlussreich sind auch die anderen Infotafeln in der Musikmuschel. Sie erzählen uns z.B., dass es früher oberhalb der Terrassen einen Gärtnereibetrieb mit Gerätehaus gab. Heute findet man von der Gärtnerei nur noch einige Lost Place-Reste. Auch an die Urlaubs-Kinder ist gedacht. Auf einer Terrasse über dem Café-Pavillon gibt es einen Spielplatz.
Die Restaurant-Küche im „Haus des Volkes“ kann ich sehr empfehlen, besonders die Sonntags-Karte. Es fällt schwer, sich zwischen Thüringer Rouladen und Sauerbraten zu entscheiden – alles frisch zubereitet!
Zum gesamten Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ gehört auch noch ein benachbarter Garagenbau. Der Bau wurde teilweise aufgestockt und mit einem Pultdach versehen.
Von Probstzella aus kann man einige schöne Ausflüge unternehmen, z.B. eine ca. 5 km lange Wanderung zur Burg Lauenstein mit Einkehr auf halbem Weg in die Confiserie Fischbachmühle oder eine Runde im Schiefergebirge zum ehemaligen Grenzturm - dem Beobachtungsturm Sattel. Im Haus des Volkes kann man sich den Schlüssel zum Turm ausleihen!
Bewegt man sich 24 km in nordöstliche Richtung, können auch Wassersportler auf ihre Kosten kommen. Es ist nämlich nicht weit zur Hohenwarte Talsperre mit Stausee. Man kann entweder oben über dem Wasser die schöne Aussicht genießen und dann im Waldhotel Bucha ein Eis essen oder mit einem Fahrgastschiff der Hohenwarte fahren oder beim Campingplatz Saalthal-Alter ins kühle Nass springen.
Wenn einem das Glück besonders hold ist, hat in Unterwellenborn zufällig auch noch das Industriedenkmal Gasmaschinenzentrale wegen eines Kunsthandwerkermarktes geöffnet. Dann ist der Tag zu 100 % rund. Der Gasdynamo ist schon eine gewaltige Maschine. Es war das Herzstück vom ehemaligen DDR-Stahlwerk Maxhütte.
Mahnende Sprüche finden sich über allen Türen.
Auf dem Außengelände verabschiedet uns ein riesiger Stahl-Sauerstoff- Konverter, der wie ein bauchiger laufender Roboter ausschaut.
Es gibt sie also noch, die kleinen Urlaubsperlen – mit allem, was das Herz begehrt: mit Bergen und Wasser, mit historischer Unterkunft und feinem Essen, mit angenehmen Temperaturen und freundlichen Leuten... sogar ganz dicht vor der Haustür. Man muss sie nur aufspüren!